In Heilbronn wurde „Tatort Theresienwiese – Initiative für die Aufklärung des NSU in Baden-Württemberg“ ins Leben gerufen. Die Initiative sieht sich als „als Schnittstelle zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Recherche“ und arbeitet insbesondere zum NSU-Komplex in Baden-Würrtemberg. Sie will fundierte, kritische Informationen liefern, aber auch offene Fragen stellen und Antworten einfordern.
Zu ihrer Gründung wurde ein Artikel veröffentlicht in dem ein Überblick über den NSU-Komplex in Baden Württemberg gewährt und über die Zielsetzung der eigenen Arbeit informiert wird:
Der 25. April 2007 hat die Stadt Heilbronn verändert. Mit dem Mord an der jungen Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter und dem Mordanschlag auf ihren Kollegen Martin Arnold wurde die vielen Bürgerinnen und Bürgern als Festplatz und Parkmöglichkeit bekannte Theresienwiese zum Tatort.
Der gespenstische Ausnahmezustand in der Heilbronner Innenstadt nach der Tat ist den Menschen in der Region in Erinnerung geblieben. Ebenso die zwei Jahre lang fehlgeleiteten Ermittlungen der Polizei gegen das angebliche „Phantom“ und seine DNA-Spur.
Anfang November 2011 dann die spektakuläre „Lösung“ des Falles:
eine rechte Terror-Gruppe mit dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) konnte 13 Jahre lang ungehindert ihr Unwesen in ganz Deutschland treiben. Der NSU hat aus rassistischer Motivation acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer getötet, mehrere Bombenanschläge verübt und Banken überfallen – und er soll auch für den Tod von Michèle Kiesewetter in Heilbronn verantwortlich sein.
Doch es bleiben viele offene Fragen. Zu viele.
Ein Tatort in Heilbronn
Warum die Polizistin am helllichten Tag auf der belebten Theresienwiese erschossen wurde, kann bislang niemand erklären. Zwei Mitglieder des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, sollen sich im April 2007 mit einem gemieteten Wohnwagen auf den Weg von Zwickau in Sachsen nach Heilbronn gemacht und dort wahllos Polizisten angegriffen haben. Das ist die Annahme der Bundesanwaltschaft, die seit Mai 2013 den Prozess gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe und weitere Unterstützer in München führt.
Verschiedene bekannt gewordene Umstände lassen diese Darstellung allerdings zweifelhaft
erscheinen.
Unabhängig voneinander beobachteten Zeugen kurz nach der Tat in der Nähe der Theresienwiese mehrere flüchtende und blutverschmierte Personen. Keine davon hatte Ähnlichkeit mit den seit 1998 untergetauchten Nazis aus Jena.
In den entsprechenden Akten ist dokumentiert, dass auch die Ermittler der „Sonderkommission Parkplatz“ von 4-6 Beteiligten am Mord ausgingen. Warum die Veröffentlichung angefertigter Phantombilder durch den Heilbronner Staatsanwalt Christoph Meyer-Manoras verhindert wurde, ist eine der vielen ungeklärten Fragen.
Nicht zuletzt passen auch die bei der Tat auf der Theresienwiese eingesetzten Schusswaffen nicht in die Mordserie, die dem NSU zugerechnet wird und bei der die Täter stets eine Ceská 83 einsetzten.
Hinzu kommen Ungereimtheiten, ob und warum sich Geheimdienst-Mitarbeiter am 25. April 2007 in Heilbronn aufhielten.
Eine tote Polizistin aus Thüringen
Vor allem die These, es habe sich bei der ermordeten Michèle Kiesewetter um ein zufälliges Opfer gehandelt, erweist sich zunehmend als unwahrscheinlich.
Die nur 22 Jahre alt gewordene Polizistin stammt aus Oberweißbach, einem etwa 150 Kilometer vom mutmaßlichen NSU-Unterschlupf in Zwickau entfernten Ort in Thüringen.
In Oberweißbach betrieb der Schwager des in München als NSU-Unterstützer angeklagten Ralf Wohlleben den Gasthof „Zur Bergbahn“. Dieser diente der rechten Szene als Treffpunkt. Der Gaststättenbetreiber kannte sowohl die Familie Kiesewetter, als auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.
Auch die frühere Lebensgefährtin von Michèle Kiesewetters Onkel, eine Polizistin aus Saalfeld, hat Kontakte in die rechte Szene. Genau wie ein langjähriger Freund von Kiesewetter, den sie nur wenige Tage vor ihrem Tod in Oberweißbach traf. Sein Bruder ist der Sänger einer rechten Skinhead-Band.
Und Kiesewetters Onkel, selbst Polizist, stellte aus unerklärlichen Gründen in einer Vernehmung schon im Mai 2007 eine Verbindung zwischen der Ermordung seiner Nichte und der bundesweiten Ceská-Mordserie her – 4 Jahre bevor überhaupt jemand über den NSU sprach.
Dass die mutmaßlichen NSU-Mörder ihr für die Tat in Heilbronn gemietetes Wohnmobil zunächst nur bis zum 19. April 2007 gebucht hatten und den Mietvertrag offensichtlich im Nachhinein verlängerten, verstärkt die Zweifel daran, dass es sich um einen willkürlichen Anschlag gegen Polizisten gehandelt habe.
Ein Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg
Für Aufsehen sorgte außerdem die Mitgliedschaft von mindestens zwei Kollegen der ermordeten Polizistin in einer deutschen Gliederung des rassistischen Geheimbundes „Ku-Klux-Klan“.
Sie gehörten der selben Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Böblinger Bereitschaftspolizei an wie die getötete Michèle Kiesewetter. Einer von ihnen war am Tattag als Gruppenführer von Kiesewetter in Heilbronn im Einsatz und zivil in der Nähe des Heilbronner Hauptbahnhofs unterwegs.
Als Mitglieder der „European White Knights of the Ku Klux Klan“ (EWK KKK) hatten die Polizisten unter anderem mit einem Blutschwur ihre Treue zur „weißen Rasse“ bekundet.
Gegründet worden war der von Schwäbisch Hall aus agierende europäische „Ku-Klux-Klan“ von Achim Schmid, einem ehemaligen V-Mann des baden-württembergischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Dieser hatte bereits als Musiker in Nazi-Rock-Bands bundesweite Verbindungen auch in das Umfeld des NSU geknüpft.
Ein weiterer „Klan-Bruder“ von Kiesewetters Kollegen stand sogar persönlich auf einer Kontaktliste des NSU-Mitglieds Uwe Mundlos. Seine Rolle ist besonders brisant, da er gleichzeitig unter dem Decknamen „Corelli“ als V-Mann jahrelang Informationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz lieferte. Ehe diese Verbindung jedoch geklärt werden konnte, verstarb der Mann im April 2014 im Alter von 39 Jahren.
Militante Nazis im Südwesten
Dass der NSU enge Verbindungen nach Baden-Württemberg hatte, steht mittlerweile außer Frage.
Das LKA spricht von 52 Personen aus dem Bundesland mit Beziehungen zum NSU-Komplex, davon 23 mit direktem Kontakt zum angeblichen „Trio“.
Von Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre waren Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und weitere Nazis aus ihrem Umfeld regelmäßig bei Freunden aus der Naziszene in Ludwigsburg zu Gast. In Briefen zeigten sie sich begeistert vom Waffenarsenal ihrer schwäbischen Kameraden.
Im Brandschutt der zerstörten Wohnung der NSU-Mitglieder in Zwickau wurden außerdem Materialien gefunden, die belegen, dass die rechte Terrorgruppe potentielle Ziele in Baden-Württemberg im Auge hatte, darunter migrantische Einrichtungen und Parteibüros.
Nicht zuletzt wohnen wichtige Führungspersonen der in Deutschland verbotenen Nazi-Organisation „Blood and Honour“ in der Region zwischen Heilbronn und Stuttgart. Darunter der ehemalige Leiter von „Blood and Honour Deutschland“ und der einstige Chef von „Blood and Honour Sachsen“, der als Beschuldigter im NSU-Verfahren geführt wird.
„Blood and Honour“ gilt als wichtigstes Netzwerk innerhalb des NSU-Unterstützerumfeldes.
Wie ernst die Gefahr durch militante Rechte im Südwesten weiterhin zu nehmen ist, zeigte sich im Juli 2011, als das Landeskriminalamt (LKA) Razzien gegen die „Standarte Württemberg“ durchführte. Bei den Mitgliedern der Gruppe, deren Ziel es gewesen sein soll, MigrantInnen mit Gewalt aus Deutschland zu vertreiben, wurden zahlreiche Waffen beschlagnahmt.
Wenig später berichtete auch ein junger Aussteiger aus der rechten Szene der Polizei von „radikalen“ Nazi-Strukturen: eine „Neoschutzstaffel“ (NSS) habe sich im Landkreis Heilbronn mit dem NSU getroffen. Bevor er weitere Angaben zu diesen Zusammenhängen machen konnte, starb Florian Heilig im September 2013 in seinem brennenden Auto – am Tag seiner geplanten Vernehmung durch das Stuttgarter LKA.
Der Staat mauert – wir sind gefragt!
Fast drei Jahre nach dem Auffliegen des NSU ist längst klar: hinter diesem Kürzel steckt mehr als eine isolierte Terror-Zelle.
Trotz verschiedener parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und der unermüdlichen Recherche von JournalistInnen und Nebenanklage-AnwältInnen im Münchner Strafprozess stößt die Aufklärung über den NSU-Komplex immer wieder an Grenzen. Die staatlichen Sicherheitsorgane, die über Jahre hinweg durch unzählige V-Leute am NSU dran waren und deren Ermittlungen immer wieder aufs Neue ins Leere liefen, wollen möglichst zügig zur Tagesordnung übergehen. Durch gezielte Schredder-Aktionen wurden vor allem in den Verfassungsschutzämtern bereits hunderte Akten vernichtet, die Auskunft über das NSU-Umfeld und das Treiben von V-Leuten in der militanten Nazi-Szene hätten geben können.
Ausgerechnet in Baden-Württemberg, wo mit dem Mord an Michèle Kiesewetter die wahrscheinlich rätselhafteste Tat begangen wurde, wehrt sich die grün-rote Landesregierung vehement gegen eine restlose Aufklärung.
Statt eines Untersuchungsausschusses, wie er in allen anderen Bundesländern mit NSU-Tatorten eingerichtet wurde, soll hier eine „Enquete-Kommission“ mit nur 6 Sitzungstagen die gesamte Mordserie und die Entwicklung des Rechtsextremismus in Baden-Württemberg abhandeln.
Demonstrativ schützend stellen sich VertreterInnen der Landesregierung außerdem immer wieder vor die Polizei. Diese wurde von verschiedenen Seiten kritisiert, weil sie nach dem Heilbronner Mord einseitig gegen MigrantInnen und vor allem gegen Sinti und Roma ermittelte.
Doch ohne schonungslose Aufarbeitung des Geschehenen kann und wird es nicht möglich sein, die richtigen Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen.
Mehr denn je ist deshalb die Zivilgesellschaft gefordert. Konsequenter öffentlicher Druck, unabhängige Recherche und eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Thema werden nötig sein, um irgendwann Antworten zu finden auf wichtige Fragen:
Was war der NSU? Welche Rolle spielte der Staat? Und: Was geschah am 25. April 2007 in Heilbronn?